Offenbart wurde: Menschenfreundlichkeit
1. Das soll ein Weihnachtstext sein? Vielleicht haben die Zeilen aus dem Titusbrief Sie eben ein wenig irritiert. Auch ich hatte bei der Vorbereitung so meine Bedenken. Für eine Taufansprache eignet sich unsere Lesung ausgezeichnet, aber doch nicht für eine Weihnachtspredigt. Wir haben ja so unsere Erwartungen. Wo kommt etwa das Kind in der Krippe vor, wo der Stall der Geburt, wo die Freude der Hirten, der Lobgesang der Engel? Nirgends. Statt dessen ist von Taufe die Rede, von Wiedergeburt und ewigem Leben. Andererseits: Nicht nur in den katholischen Meßfeiern wird dieser Abschnitt aus dem Titusbrief
heute Morgen vorgelesen. Evangelische Christen, die sich zum Gottesdienst am
Weihnachtsmorgen versammeln, werden ihn ebenfalls zu hören bekommen. Unsere vier Verse
müssen demnach doch mehr mit Weihnachten zu tun haben, als beim ersten Hören offenkundig
wird.
2. Möglicherweise finden wir einen Zugang, wenn wir zunächst auf uns selbst schauen und uns die vergangenen Tage noch einmal ins Gedächtnis rufen. Diese waren für die meisten von uns vermutlich mit einiger Anspannung verbunden. Alle Konzentration galt der Vorbereitung des Heiligen Abends, denn es gab allerhand zu tun. Und manchmal war im Gespräch die bange Frage zu hören, ob das Fest wohl gelingen werde? Mit dem Heiligen Abend sind oftmals ganz besondere Erinnerungen und Gefühl verbunden, mit denen viele Menschen so recht nicht umgehen können. Wird es eine schönes Fest, zu dem alle etwas beitragen und das allen Freude bereitet? Oder wird die Stimmung umschlagen in einen Familienkrach? Gestern war Heiliger Abend - und wie ist es Ihnen da ergangen? Konnte die Spannung sich legen und der Freude Platz machen, weil Sie ein gutes Miteinander mit Ihrer Familie, mit Verwandten oder Freunden erlebten, weil das Weihnachtsevangelium Sie angerührt hat? Was ist heute Morgen anders als gestern? Ich habe den Eindruck, als sei der Trubel rund um die Bescherung einer Stille und Besinnung
gewichen, als sei der weihevollen Stimmung, von der Menschen in der Christmette erfüllt waren,
eine gewisse Ernüchterung gefolgt. Das beobachte ich an mir selbst: Heute ist Weihnachten - und
was jetzt?
3. Jetzt ist Zeit für eine Vergewisserung des Glaubens. Und es erweist sich, daß unsere Lesung aus dem Titusbrief eben dazu helfen kann. "Erschienen ist die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters", heißt es im ersten Satz. Das ist die gute Nachricht schlechthin. Was wir gestern Abend gefeiert haben, wird heute Morgen bestätigt: Gott ist erschienen, ist in Jesus zur Welt gekommen. Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit ist offenbar geworden. Am Leben Jesu läßt sich ablesen, was das bedeutet. Er wendet sich den Abgeschriebenen, Ausgestoßenen, Benachteiligten zu, solidarisiert sich mit den Armen und preist die selig, "die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit". In ihm ist wahr geworden, was der Prophet Jesaja einst verkündete: "Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht" (Jes 9,1). Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit strahlt auf in der Finsternis unserer bedrohten Menschlichkeit und unserer beeinträchtigten, zerstörten Gemeinschaft. "Gott kam als Mensch in die Welt", schrieb ein Theologe, "damit der Mensch wahrhaft Mensch werde." Wahrhaft Mensch sein - ist das nicht ein Traum, von dem wir wünschen, er möge Wirklichkeit
werden? Nicht länger die eigene Bedürftigkeit schön reden, sich nicht länger hinter Leistung und
Erfolg und Stand verstecken. Mich vielmehr angenommen wissen, wie ich bin, und mit großer
Herzlichkeit andere annehmen, wie sie sind. Offen sein, Freundlichkeit erfahren und selbst den
Weg der Menschlichkeit gehen, der Solidarität mit denen, die auf meinen Beistand hoffen. Aber
das erfordert mehr Mut, als ich aufbringen kann, und bleibt somit wohl ein unerfüllter
Lebenstraum.
4. Dem widerspricht unsere Lesung: "Als die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres
Retters, erschien, hat er uns gerettet." Sein Kommen zielt auf unser persönliches Leben und seine
Veränderung. Das Erscheinen der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes ist ein dynamisches
Ereignis bis in die Gegenwart hinein. Seine Liebe will bei uns ankommen - und das ist bereits
geschehen, erinnert uns der Titusbrief, nämlich im Bad der Wiedergeburt, also in der Taufe.
Damit ist der Grund zur Menschwerdung gelegt. Ob und wie Gottes Heilsoffenbarung tatsächlich
bei uns angekommen ist, erweist sich allerdings nicht an unseren Träumen, sondern an unserem
persönlichen Verhalten und der Bereitschaft, uns ins "Wahrhaft-Mensch-sein" einzuüben.
Weihnachten ist ein wunderbarer Anlass, damit aufs Neue zu beginnen.
© Gundula Kühneweg 2001
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