Nach dem 11. September: Weil wir nicht alleine sind
Als ob wir heute noch so sicher leben könnten! Seit dem 11. September ist - historisch betrachtet: wieder einmal - auf der Welt alles anders. Die Sicherheit der weithin hochgelobten High-tech-Welt hat sich als brüchig erwiesen. Ja, mehr: Als nicht zu gewährleisten. Alle Systeme dieser Welt können von Menschen irgendwie überwunden und missbraucht werden. Katastrophen jeweils immer ungeahnten Ausmaßes waren die Folgen. Sie hießen Tschernobyl, World Trade Center, die größte Ölplattform der Welt, deren Namen schon wieder vergessen ist, seit sie vom Meer verschlungen wurde - und viele andere. Und in diese brüchige Zeit hinein hören wir einen Psalm so voller Vertrauen, wie es kaum andere
Psalmen gibt. Als ob Vertrauen in Gott ein Allheilmittel wäre. Wie also ist der einundneunzigste Psalm zu begreifen,
damit wir ihn nicht missbrauchen. Damit er seine ursprüngliche Kraft nicht verliert gegen heute
übermächtig erscheinende konträre Lebenserfahrungen?
"Unter die Fittiche nehmen?" - dieses Sprichwort zeigt, wie eben Sprichworte auch eine Kernaussage verändern können. Gott nimmt uns nicht beim Händchen, um uns durch das ach so böse Leben zu führen, das da in der fremden Welt nur auf uns wartet, um uns zu verderben. Gott, so sein klar geoffenbarter Wille, wendet sich uns zu, wie schon Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Rahel und Lea es erfahren haben. Sein Wille heißt: unsere Rettung. Das sind seine Fittiche. Das ist seine Wahrheit. Aber: Was ist Wahrheit? Nicht nur die berühmte und vielfach missverstandene Frage des
Pilatus im Prozess gegen Jesus. "Wahrheit", so wie sie der Psalmenbeter versteht, ist nicht zu
verstehen als Begriff, sondern als Wahrnehmung und Erfahrung: Gott erweist sich als verlässlich,
als treu, als einer, der die Beziehung zu uns aufrecht erhält, der nicht flüchtet, wenn wir Schutz
suchen.- Und noch ein "Aber" hinterher: die Stille Gottes, der ferne Gott, der scheinbar
abwesende Gott des 11. September: Wo erweist sich seine Treue, wenn Tausende, deren Leben
ganz und gar nicht vollendet erscheint, einen unsinnigen Tod sterben? Der einundneunzigste
Psalm soll doch endlich zugeben, dass er uns den Zugang zu Gott erschwert, ja bisweilen beinahe
unmöglich macht.
Auch den Verfasser dieses Gedichtes, das wir als Lied in unseren Gottesdiensten singen, Dietrich Bonhoeffer, hat Gott nicht aus dem Gefängnis befreit. Seiner Familie wurden die Zukunftspläne gänzlich zerstört. Dennoch konnte er zur Jahreswende vor seinem Tod, im Dezember 1944, dichten: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, behütet und getröstet wunderbar." Und ich weigere mich aufzugeben. Weil ich weiß, dass dieser einundneunzigste Psalm aus der alten Weisheitstradition des Volkes Israel stammt, das das lange Exil in Babylon endlich überwunden hatte. Ein Psalm vor dem Hintergrund einer Freiheitserfahrung. Ein Psalm, der im Tempel dem Volk vorgebetet wurde, den man in den Schulen und auch im häuslichen Beten vollzog. Das Volk Israel selbst und damit alle einzelnen Betenden tragen ihr persönliches Vertrauensverhältnis vor Gott. Und praktizieren den Schutz: Wer im Tempel Asyl sucht, der erhält es. Rettung im menschlichen Bereich, weil Gott seine Rettung auf seine Art bereits verheißen hat. Ein Volk wendet Gottes Verheißung an. So mag verständlich werden, wenn Gott selbst am Ende des Psalms zum Sprechenden wird: Die an mir hängen, die werde ich retten - Die zu mir rufen, höre ich, bei den Notleiden werde ich sein. Gott jedoch erfüllt nicht unsere Erwartungen, aber alle seine Verheißungen. Demnach bleibt es nicht bei unserer Erwartung der Rettung: Die aus der Not Befreiten bringt Gott zu Ehren, sättigt er mit langem Leben und lässt sie sein Heil schauen. Nur weil Gott Gott ist, rettet er uns, so wie er retten versteht. Es liegt an uns, Seinen Namen zu kennen und an ihm zu hängen. Seinen Namen zu kennen meint: personal mit Gott vertraut zu sein. Dann wird die ebenso persönliche Zuwendung Gottes entscheiden; denn Gott sagt genau diesen individuellen Schutz zu. Es gibt Situationen, in denen ich Gott unbedingt brauche, in der Tiefe einer Erschöpfung oder im Loch einer Verzweiflung. Dann muss mir die Zusage gemacht werden, dass mich Gott nicht tiefer stößt oder weiter fallen lässt - und fallen Tausende oder Zehntausende neben mir genau so tief. Dann muss Gott mich eine ungeteilte Aufmerksamkeit erfahren lassen - durch einen anderen Menschen etwa, der mich unbedingt ernst und wichtig nimmt. Mag Gottes Handeln noch so oft unverständlich sein und Klagen über Klagen herausfordern, es gibt diese ungeteilte Zuwendung durch andere Menschen. Das lässt uns erfahren, dass es Gottes Rettungswillen, dass es eine begründete Hoffnung auf sein Heil gibt. Auch wenn meine begrenzten Vorstellungskräfte mir kein exaktes Bild davon zeichnen können. Ich möchte Ihnen mit den biblischen Worten des Psalms wünschen, dass kein Unheil Ihrem Zelt naht, dass Sie über Löwen und Nattern schreiten können - weil Sie nicht alleine sind. Und weil Gott Gott ist - und bleibt. Darauf baue ich, und deshalb ist einundneunzigste Psalm auch für mich ein Psalm des Vertrauens. Die Predigt wurde gehalten im Eröffnungsgottesdienst des Wintersemesters 2001/2002 für die Studierenden und Lehrenden der Katholischen Fachhochschule Mainz
© Werner Müller-Geib Schreiben Sie an mueller-geib@predigthilfe.de |