Tödliche Lügen
Stationen: Ein Erbstück / Gott und die Götzen / Gottes Religionskritik / Politischer Glaube / In unserer Mitte (1) Ein Erbstück. "Ihr habt euch von den Götzen zu Gott bekehrt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen". So schreibt der Apostel Paulus der Christengemeinde von Thessalonich. Das Wort von der Bekehrung macht mich hilflos. Es klingt mir viel zu dramatisch, wenn ich es mit meinem Gefühlshaushalt vergleiche. Viel zu groß, wenn ich es neben meinen kleinen Glauben halte. Unser Glaube kommt mir eher vor wie ein Erbstück, das wir nun einmal empfangen haben und jetzt in den Händen halten. Gewiß: Es gibt Momente, wo wir spüren, daß es sich um ein kostbares Erbe handelt. Es gibt unser Bemühen, im Glauben zu wachsen und zu reifen und ihn auch an andere weiterzugeben. Das alles gibt es. Aber gibt es - Bekehrung? Wir könnten versucht sein, uns um eine Antwort zu drücken. Wir könnten darauf hinweisen, daß wir eine solche Bekehrung ja gar nicht nötig haben. Wir sind ja bereits Christen. "Ihr habt euch bekehrt weg von den Götzen hin zu Gott": das schreibt Paulus doch Menschen der Antike. Menschen in Thessalonich, einer Stadt, in der er es zu seiner Zeit keine einzige christliche Kirche, aber viele heidnische Tempel und Götzenbilder gab. Bekehrung: Das setzt doch wohl voraus, daß man eine Wahl zu treffen hat zwischen dem wahren Gott und irgendwelchen Götzen. Wir - so könnten wir sagen -, wir haben Bekehrung nicht nötig. Wir stehen vor keiner Wahl zwischen Gott und den Götzen. (2) Gott und die Götzen. Ich meine: So schnell werden wir die Frage nach unserer eigenen Bekehrung nicht los. Ich möchte Sie einladen, einmal genauer hinzuhören, was Paulus den Christen in Thessalonich schreibt. In dieser griechischen Stadt am Meer hat Paulus selbst die Christengemeinde begründet. Die Gemeinde bestand aus ehemaligen "Heiden", d.h. aus Griechen, Römern und Menschen anderer Herkunft. Unter den Gemeindemitgliedern waren keine Juden. Das war etwas Neues. Die ersten christlichen Gemeinden waren jüdische Gemeinden so wie Paulus selbst ein Jude war. Für sie bedeutete der Glaube an Jesus keine neue Religion, sondern eine neue, eine lebendigere Weise, ihren ererbten jüdischen Glauben zu leben. Die Gemeindeglieder in Thessalonich dagegen hatten erst zum Gott der Bibel gefunden. Paulus schreibt in seinem Brief: "Alle Welt spricht von euch. Man sagt: Ihr habt euch bekehrt weg von den Götzen hin zu Gott." Worin unterscheidet sich dieser Gott von den Götzen? Die Antwort der Bibel ist einfach:
(3) Gottes Religionskritik. Die Unterscheidung zwischen Götzen und Gott zielt nicht auf den Absolutheitsanspruch einer (vermeintlich) christlichen Weltanschauung. Eher schon ist sie Gottes eigene Religionskritik, die für alle Religionen gilt, auch für Juden und Christen. Wer mit Bezug auf den Gott der Bibel andere bedrückt, abhängig macht und ihr Leben beschädigt, der hat aus Gott einen Götzen gemacht. Und umgekehrt: Wo Menschen durch ihre Religion frei werden und zum Leben finden, dort hat religiöse Praxis etwas mit dem "Glauben" zu tun, um den es der Bibel geht, und mit dem Gott, auf den solcher Glaube antwortet. Auch, wenn ihm andere Namen geben werden. Auch, wenn die Bilder für sein Wirken und Wesen andere sind, als die Bibel gebraucht. Die Unterscheidung zwischen Gott und den Götzen läßt sich kaum besser formulieren, als es Martin Luther in seiner Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus gesagt hat: "Was heißt das, einen Gott haben", fragt Luther und antwortet:
(4) Politischer Glaube. Götzen beschränken sich nicht auf das Etikett einer "religiösen" Weltanschauung. Zum Götzen kann alles werden, von dem wir uns abhängig machen. Von dem wir uns so abhängig machen, wie wir es in Wahrheit nur von Gott sind und sein dürfen. Deshalb gibt sich der jüdische und christliche Glaube nicht zufrieden damit, eine "Privatsache" zu sein. Von daher ist die Zeitgeistwende vom Chic des Atheismus der siebziger Jahre zum religiösen Markt der neunziger eine zwiespältige Erfahrung:
Der katholische Intellektuelle und Schriftsteller Carl Amery - im April dieses Jahres wird er achtzig Jahre alt - schreibt in seinem neuen Buch Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt (München 2002):
Würde Paulus uns diesen Satz schreiben: "Ihr habt euch bekehrt, weg von den Götzen, hin zu Gott"? (5) In unserer Mitte. Der Gemeinde in Thessalonich hat Paulus dieses Lob geschrieben. Er freut sich über ihren Glauben. Er sagt: "Ihr seid dem Beispiel gefolgt, das ich euch gegeben habe, und damit seid ihr letztlich dem Beispiel Jesu gefolgt. Jetzt seid ihr selbst ein Beispiel für alle Gläubigen geworden". Hier beschreibt Paulus, wie der Glaube weitergegeben wird. Durch das Beispiel des Lebens. Das Leben Jesu, das Leben der Apostel, das Leben der Gläubigen. Nicht als Theorie, sondern als konkretes Leben macht Gottes Wort die Runde. Wenn Menschen sich für Gott entscheiden sollen, dann müssen sie am Leben anderer Menschen ablesen können - was das heißt: den Götzen widerstehen und an Gott glauben. Ich denke dabei nicht in erster Linie an Moral als eine Art Leistungssport; nicht an besonders tugendhafte oder starke Menschen. Sondern ich denke an Menschen, die in ihrem Leben durchbuchstabieren, daß das Vertrauen auf Gott trägt. Die erfahren haben, was in der "Schönen Neuen Welt" zur peinlichen Anstößigkeit wird: Erbarmen. Das können von außen ganz unscheinbare, ganz schwache, eben erbärmliche Menschen sein. Aber sie lassen sich tragen vom Vertrauen auf Gott.
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