Schule der Nachfolge Christi





Römerbrief 14,7-10: 7 Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben wir gehören dem Herrn. 9 Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende. 10 Wie kannst also du deinen Bruder richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder verachten? Wir werden doch alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen.


Stationen: Unerbittlich fromm / Eine erstaunliche Konsequenz / Kein anderes Gericht / Schule der Nachfolge Christi / Mehr als ein Kompromiß / Ein kleiner Satz

(1) Unerbittlich fromm. Eine Stadt in Deutschland: An einem Werktag abend versammelt sich eine Anzahl von Menschen im Tagungsraum eines Bildungshauses. Statt des Rednerpultes ist ein Altar hergerichtet. Ein Priester, sorgfältig liturgisch gekleidet, zelebriert eine lateinische Messe nach tridentinischem Ritus. Für die Katholiken, die sich hier versammeln, bedeutet unsere Gegenwart die Zeit eines einzigen großen Glaubensabfalls. Unerbittlich halten sie an alten Formen und Formeln fest. Die Gruppe lebt aus dem Bewußtsein, einer kleinen Schar, dem letzten Rest der wahren Gläubigen, anzugehören. In derselben Stadt versammelt sich Sonntag für Sonntag eine Gemeinde zum Gottesdienst. Viele geschiedene und wiederverheiratete Katholiken finden sich hier wieder. Die Form des Gottesdienstes ist bewußt sehr zurückhaltend: kein großer liturgischer Einzug, kein Weihrauch, kein Latein. "Was sollten wir mit dieser Papisterei hier anfangen?!", sagt ein Mitglied des Pfarrgemeinderates.

(2) Eine erstaunliche Konsequenz. Auch in der Gemeinde von Rom vor zweitausend Jahren gab es unterschiedliche Frömmigkeitsformen unter Christinnen und Christen. Sie führten zum Konflikt. Die einen Gemeindemitglieder hielten streng an den religiösen Bräuchen fest, die sie aus ihrer jüdischen Tradition kannten, z.B. im Blick auf erlaubte und verbotene Speisen. Andere Gemeindemitglieder fühlten sich in ihrem Gewissen frei, sich über Gebote und Verbote dieser Tradition hinwegzusetzen. Der Apostel Paulus hat von dem Konflikt zwischen den beiden Richtungen gehört. Um den Streit zu schlichten, erinnert er beide Seiten an ihr christliches Bekenntnis: "Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn." In den folgenden Sätzen des Briefes zieht Paulus die Konsequenz aus diesem Bekenntnis für den Konflikt in der Gemeinde. Die Konsequenz ist erstaunlich. Paulus schreibt: "Wie also kannst du deinen Bruder, deine Schwester richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder, deine Schwester verachten? Wir werden doch alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Daher wollen wir uns nicht mehr gegenseitig richten" (Röm 14,10.13).

(3) Kein anderes Gericht. Paulus erinnert beide Seiten an den gemeinsamen Glauben. An die Beziehung, die Gott zu jedem einzelnen eingegangen ist und von der wir durch Jesus wissen. "Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber." Das macht die Würde jedes Menschen aus. Christen sind Menschen, die von dieser Würde wissen. Alle Unterschiede in Glaubens- und Frömmigkeitsformen sind demgegenüber zweitrangig. Alle Unterschiede in Glaubens- und Frömmigkeitsformen müssen deshalb auch nicht von uns oder von der Kirchenleitung beseitigt und eingeebnet werden. Weil Gottes Beziehung zu jedem Menschen unauflöslich ist - im Leben und im Sterben -, deshalb ist Gott auch der Richter, vor dem sich jede und jeder zu verantworten hat. Gott hat sein Richteramt nicht abgetreten, nicht an die Richter dieser Welt und auch nicht an die Kirche. "Wir alle werden vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Daher wollen wir uns nicht mehr gegenseitig richten". Ist diese Auskunft des Paulus befriedigend? Ist sie ausreichend, um das Gemeindeleben zu regeln? Zumindest ist diese Regel noch weit davon entfernt, das ökumenische Gespräch nachhaltig zu bestimmen. Paulus fordert als oberste Regel eine Rücksichtnahme, die aus einer letztinstanzlichen Achtung kommt. Christen sollen einander in ihren Unterschieden, auch und gerade in den Unterschieden ihres Glaubens, nicht nur dulden, sondern achten. Das ist mehr und etwas anderes als bloße Toleranz. Es ist der Vorschlag, Gemeinde als Nachfolge Christi zu leben. So, wie Gottes Liebe in Jesus Christus jeden Menschen angenommen, geliebt, ja "heiliggesprochen" hat, so versteht Paulus Gemeinde als eine Schule, in der Menschen sich in diese Achtung voreinander einüben.

(4) Schule der Nachfolge Christi. Unsere Gesellschaft könnte viele solcher Schulen gebrauchen. Am 14. Mai 1996 hat das Bundesverfassungsgericht den sog. Asylkompromiß für verfassungskonform erklärt. Damit hat der politische Wille, die Grenzen unseres Landes möglichst dicht zu machen, auch juristisch den Vorrang vor der Prüfung des Einzelfalles erhalten. Viele Gruppen und Organisationen der Flüchtlingshilfe haben diese Entscheidung bedauert. Auch wenn Christinnen und Christen unterschiedlicher Meinung sein können, welche politischen Regelungen angemessen sind. In einem kann es keinen Zweifel geben: daß der Glaube an den Gekreuzigten uns sensibel machen will für den Wert und die Not des einzelnen. Wenn der Preis, den unsere Gesellschaft für ihren Wohlstand und ihre innere Ruhe bezahlen will, darin bestünde, für sich selber zu leben und sich blind zu stellen, wenn Menschen verletzt und verfolgt werden, dann dürfen Christen diesen Preis nicht bezahlen.

(5) Mehr als ein Kompromiß. Eine Gemeinde als Lebensschule? In jeder Gemeinde gibt es Junge und Alte. Konservative, die den Wert des Alten erhalten wollen, und solche, denen in der Kirche vieles viel zu langsam geht. Und es gibt viele, die den Weg zu einer Gemeinde nicht mehr gehen. Eine Gemeinde als Schule der Nachfolge Christi: Das wäre mehr als ein Kompromiß, es möglichst vielen recht zu machen und möglichst keinen vor den Kopf zu stoßen. Eine Gemeinde als Schule der Nachfolge Christi: Zu lernen, mit Menschen zu sprechen, gerade dann, wenn's schwerfällt, anstatt über andere in ihrer Abwesenheit zu reden und richten. Vielleicht alles in allem nicht weniger Konflikt, sondern mehr. Aber ein ehrlicher und sachlich durchgestandener Streit ist ein Zeichen dafür, daß Menschen einander achten und ernst nehmen. Allemal besser als der Kältetod der Gleichgültigkeit, wenn eine/r sich auf sich selbst und auf das zurückzieht, was er/sie immer schon für richtig gehalten hat.

(6) Ein kleiner Satz. "Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber." Der ganze Anspruch und der ganze Trost christlichen Glaubens liegt in diesem kurzen Satz. Christen sind Menschen, die den Kreis ihres Lebens nicht eng und klein ziehen müssen, weil der Mittelpunkt dieses Kreises nicht unser kleines Leben, sondern Gottes Ewigkeit ist. Aufgewachsen im ländlichen Katholizismus, erinnere ich mich an das Ende der Gottesdienste: Die Leute gingen nach dem Orgelspiel nicht einfach ihrer Wege. Sondern nach dem liturgischen Auszug des Pfarrers kniete jede/r nieder, und man betete gemeinsam: "Jesus, Dir leb ich, Jesus, Dir sterb ich, Jesus dein bin ich, tot und lebendig". Das war gar keine schlechte Übung.

Der Abschnitt Röm 14,7-10 ist nach dem dreijährigen Lesezyklus der katholischen Kirche die neutestamentliche Brieflesungl für den 24. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A.

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© Ulrich Sander

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