2 Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker.
3 Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort.
4 Er spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.
5 Ihr vom Haus Jakob, kommt, wir wollen unsere Wege gehen im Licht des Herrn.
1. "Viele Nationen machen sich auf den Weg; sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf
zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs." Klingt dieser Satz nicht
traumhaft schön? Wer möchte da nicht ins Träumen kommen und sich dieses
Geschehen in bunten Farben ausmalen. Wenn ich mir das vorstelle: eine weltweite
Sternwanderung "zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs", Gott
preisende und fröhlich miteinander redende Menschen, die andere, am Wegesrand
stehende, einladen, sich ihnen anzuschließen. Es wird Sprachprobleme geben. Nein,
nicht wirklich. Mit "Händen und Füßen", mit Liedern und der Fröhlichkeit des Herzens
klappt die Verständigung schon. Wir sind unterwegs zum Berg des Herrn, schließt euch
doch einfach an, denn alle sind eingeladen zum Leben. Seht, von Süden kommt eine
Gruppe Schwarzafrikaner und Araber, aus dem Norden haben sich Tausende auf den
Weg gemacht. Wir wissen, daß aus Latein- und Südamerika unzählige Menschen
aufgebrochen sind, und die Völker Asiens werden gewiß auch nicht lange auf sich
warten lassen."
Völkerwanderungen in einem Ausmaß, wie sie die Erde noch nie erlebte, farbenprächtig - und absolut friedfertig. Freiwillig rücken die Männer ihre Waffen heraus, denn keiner von ihnen hat mehr Lust auf Krieg. Und was geschieht mit dem ganzen Waffenarsenal? Ehe die Waffen zu einem riesigen Haufen Schrott verkommen, gelingt es, einen großen Teil umzuschmieden in landwirtschaftliches Gerät, in Kinderwagen und Rollstühle. Ja, es ist ein wunderbares Bild, die Menschen einträchtig im Licht des Herrn gehen zu sehen und die ganze Welt vereint zu wissen im Leben aus dem Glauben und in der Anbetung Gottes - über alle ethnischen Grenzen und Religionsgrenzen hinweg!
Aber es ist halt doch nur ein Traum, und wir müssen wieder die Augen öffnen und
erkennen, daß dieser Traum zur Wirklichkeit keinen Bezug zu haben scheint. Ich fürchte
sogar, heute will man nicht einmal hören, was der Prophet einst verhieß: "Vom Zion
kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort". Sollte unsere Lesung von
Anfang an nur ein Traum gewesen sein, ein Traum des Propheten, der ihm selbst Mut
machte, "den Weg im Licht des Herrn" zu gehen und sich nicht beirren zu lassen von
der Gewalt, die überall herrscht?
Wenn jedoch der Prophet nicht nur seinem heimlichen Sehnen Ausdruck verleiht,
dann muß es Zeiten gegeben haben, in denen die Gedanken an den Aufbruch zum
Berg des Herrn, an das Umschmieden von Mordinstrumenten in Friedenswerkzeug
tatsächlich Hoffnung und Lebensmut hervorrufen konnte und Bilder, in denen
menschliche Sehnsucht ihr Ziel erkannte.
2. Wie lange mögen diese Zeiten zurückliegen? Die Gegenwart zeigt den Zionsberg
als Schlachtfeld. Nicht Freude erfüllt jetzt die Welt, die nach Jerusalem schaut, sondern
Unverständnis, Schrecken, gar Entsetzen. Kaum einer, den es nach Jerusalem zieht.
Es wird gekämpft - mit Steinschleudern, Molotowcocktails, Selbstmordkommandos auf
der einen, mit Gummigeschossen, Panzern und Raketen auf der anderen Seite. Hass
und Gewalt, Bäche von Blut und Tränen. Wohin sich viele Nationen einst auf den Weg
machen werden, um gemeinsam zum Berg des Herrn zu ziehen, da hetzen heute
Reden auf zum Krieg. Israelis und Palästinenser machen einander den Weg zum Berg
des Herrn streitig. Und oft wird ein Arbeitsgerät zur Waffe umfunktioniert. Fernsehbilder
belegen das beinahe täglich. Und hüben wie drüben führt man den Namen Gottes auf
seinen Fahnen. Als könne Gott gewinnen, wer "den Berg des Herrn und das Haus des
Gottes Jakobs" regiert. Zeigt sich hier nicht, wie wenige in Wahrheit um der Weisung
Gottes willen nach Zion schauen? Auch manche von denen, die aus der westlichen und
östlichen Welt in unseren Tagen nach Jerusalem blicken, tun es nicht, weil sie von dort
Gottes Wort erwarten, sondern zu erkunden, ob sie noch mehr Waffen an die
Kontrahenten verkaufen können. Vom Frieden, vom Hören auf Gottes Weisung, vom
Gehen im Licht Gottes keine Spur und keine Nachricht.
3. Und trotzdem: Unrecht und Unfriede, die nicht nur in Jerusalem, sondern weltweit
und mit unterschiedlichen Mitteln herrschen, sind nicht die einzige Wirklichkeit - und
schon gar nicht die letztgültige. Es gibt eine andere, für aufmerksame Beobachter schon
jetzt wahrnehmbare.
Die Machthaber in den Völkern sind nicht die wirklichen Herren der Welt. Herr der Welt ist ein anderer. Von ihm bezeugt der Prophet, er werde kommen und Recht sprechen im Streit der Völker. Er wird auch "die Machenschaften der Starken und Mächtigen, die Unrecht und Krieg hervorrufen, schonungslos aufdecken" (G. Fohrer). Er kommt - nicht mit Streitwagen, sondern in der Ohnmacht eines Kindes. Aber auf seiner Schulter, liegt die Herrschaft und man nennt ihn Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Fürst des Friedens (vgl. Jes 9,5).
Bereiten wir uns in diesen Tagen des Advent auf das Kommen dieses Friedensfürsten
vor und bitten wir Gott, daß er uns seine Wege zeige und uns helfe, unsere Wege in
seinem Licht zu gehen.
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© Gundula Kühneweg 2001 |