Sachor! - Gedenke!





Lukasevangelium 17,22-37: 22 Jesus sagte zu den Jüngern: Es wird eine Zeit kommen, kommen, in der ihr euch danach sehnt, auch nur einen von den Tagen des Menschensohnes zu erleben; aber ihr werdet ihn nicht erleben. 23 Und wenn man zu euch sagt: Dort ist er! Hier ist er!, so geht nicht hin, und lauft nicht hinterher! 24 Denn wie der Blitz von einem Ende des Himmels bis zum andern leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag erscheinen.25 Vorher aber muß er vieles erleiden und von dieser Generation verworfen werden. 26 Und wie es zur Zeit des Noach war, so wird es auch in den Tagen des Menschensohnes sein. 27 Die Menschen aßen und tranken und heirateten bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging; dann kam die Flut und vernichtete alle. 28 Und es wird ebenso sein, wie es zur Zeit des Lot war: Sie aßen und tranken, kauften und verkauften, pflanzten und bauten. 29 Aber an dem Tag, als Lot Sodom verließ, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel, und alle kamen um.30 Ebenso wird es an dem Tag sein, an dem sich der Menschensohn offenbart. 31 Wer dann auf dem Dach ist und seine Sachen im Haus hat, soll nicht hinabsteigen, um sie zu holen, und wer auf dem Feld ist, soll nicht zurückkehren.32 Denkt an die Frau des Lot! 33 Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen.34 Ich sage euch: Von zwei Männern, die in jener Nacht auf einem Bett liegen, wird der eine mitgenommen und der andere zurückgelassen.35 Von zwei Frauen, die mit derselben Mühle Getreide mahlen, wird die eine mitgenommen und die andere zurückgelassen.37 Da fragten sie ihn: Wo wird das geschehen, Herr? Er antwortete: Wo ein Aas ist, da sammeln sich auch die Geier.





1. "Sachor! Gedenke!" Durchdringend wie die Stimme eines Rufers in der Wüste erschallt die Mahnung. Wie eine nicht abwerfbare Last liegt sie auf der kleinen Gruppe, die sich vor dem ehemaligen jüdischen Betsaal versammelt hat.

Gedenke! Kaum einer der Anwesenden kann sich noch persönlich an die Ereignisse der Reichspogromnacht erinnern. Die anderen, jüngeren, haben sich ihr Wissen darüber zumeist angelesen. Nur in wenigen Häusern fanden sich ja Zeitzeugen bereit, über diesen Gewaltakt zu sprechen. Ob es an der Einsicht lag, daß auch jene Täter waren, die nicht gezündelt, zerstört, mißhandelt haben? Oder nur an Uneinsichtigkeit und Verdrängung?

Gedenke! Was mag diese Mahnung in den Spätgeborenen hervorrufen? Vielleicht jene Bilder, wie sie das Lukasevangelium im siebzehnten Kapitel zeichnet: Menschen gestalten ihr Leben mit allem, was dazu gehört. Plötzlich bricht die todbringende Katastrophe über sie herein - so wie die Sintflut in den Tagen des Noah. Menschen gehen ihren täglichen Geschäften nach, stellen sich dem Lebenskampf. Und dann steht ohne große Vorwarnung das, was ihnen wert ist, in Flammen - so wie es zur Zeit des Lot geschah. Die Brandstifter sind bekannt und werden doch nicht zur Rechenschaft gezogen. Menschen erleben das Inferno und ahnen, für die meisten von ihnen wird es kein Entkommen geben.

So oder so ähnlich müssen die Vorstellungen wohl sein, geprägt auch durch Filme von brennenden Synagogen, getretenen, verprügelten Frauen und Männern, Kindern und Greisen. Dem Reichspogrom folgt Auschwitz, Theresienstadt, Meidanek.

2. Denen, die sich zum Gedenken versammelt haben, ist Erschrecken, Entsetzen, Unverständnis anzusehen. Vor allem aber scheint Sprachlosigkeit die ganze Gruppe zu betreffen, den mahnenden, aufrüttelnden Worten ebenso zum Trotz wie den nicht ausbleibenden geschwätzigen Reden.

Oder nehme ich etwas falsch wahr, und es geht eigentlich gar nicht um die anderen Teilnehmer der Gedenkveranstaltung, sondern um mich persönlich? Dann ist ja das, was in dieser Stunde zu Tage tritt, zu allererst mein eigenes Erschrecken, mein Entsetzen, mein Unverständnis, meine Sprachlosigkeit. Diese Regungen fordern Auseinandersetzung.

Was damals mit dem 9. November 1938 einen ersten grausamen Höhepunkt erreichte, das geht mich etwas an. Und es genügt wohl nicht, mich nur zu erinnern, einmal im Jahr; die Lehren, die ich aus diesem Geschehen ziehe, sind gefragt - jeden Tag.

3. Reichspogromnacht - ermordete, geprügelte, verhaftete Menschen jüdischen Glaubens, brennende Synagogen, verwüstetes Eigentum, zerstörte Existenzen.

Reichspogromnacht - aufgehetzte Jugend, Haß säende und gewalttätige Schlägertrupps, pöbelnde Mitläufer, schweigende, Hilfe verweigernde Zuschauer.

Reichspogromnacht - eine der finstersten Nächte in der Geschichte meines Volkes.

4. Aber meine Geschichte, wo ich doch die Gnade der späten Geburt für mich geltend machen könnte? Ja, auch meine Geschichte. Nicht meine Schuld, das nicht. Aber meine Geschichte - und damit meine Verantwortung -, der ich schon in Kindertagen begegnete. Was geschehen war, wurde erzählt.

Es waren keine geschönten Geschichten, das Entsetzliche wurde benannt und erzeugte Unverständnis und Erschrecken über die Grausamkeiten, die Menschen jüdischen Glaubens angetan wurden. Aber es blieben kurze Aufnahmen einer fremden, fernen Welt - bis mit wachsendem Verstand die Einsicht kam: Die Opfer hatten alle Namen. Ich wußte, wo einige von ihnen gewohnt hatten. Und die Täter? Mußten sich ihre Wohnungen nicht auch in der Nähe befinden? Wer waren die Täter? Gehörten sie zu meinen Verwandten, gar zu meiner Familie? Plötzlich rückte das scheinbar Ferne in unmittelbare Nähe, verlangte nach einem ganz anderen Umgang, führte zu schmerzlichen Einsichten. Erst durch hartnäckiges Fragen erhielten auch die Täter und Mitläufer bekannte, sogar vertraute Gesichter. Daß unter ihnen niemand meinen Familiennamen trug, hat mich nur ein wenig erleichtert, war das doch auf ein beherztes Eingreifen, gleichwohl aber zufälliges Ereignis zurückzuführen. Wie leicht hätte es anders kommen können.

5. Für Erschrecken, Entsetzen, Unverständnis findet sich also eine Erklärung in der Geschichte meines Volkes, in meiner Geschichte. Und was hat es mit der Sprachlosigkeit auf sich? Auf die Vergangenheit bezogen, kann sie eine angemessene Reaktion sein. Auf dem Hintergrund der Reichspogromnacht und der ihr folgenden Verbrechen steht sie auch für Scham. Das, was Menschen jüdischen Glaubens damals an Ängsten, körperlichen und seelischen Qualen durchlitten haben, läßt sich nicht in Worte fassen - in Berichten nicht und auch nicht im Gebet. Da bleibt nur das schweigende Gedenken. Für die Gegenwart aber gilt mir Sprachlosigkeit als Warnung. Wer heute schweigt, wenn im kleinen Kreis dreiste Witze gerissen werden auf Kosten von Minderheiten - der macht sich schuldig.

Wer heute schweigt, wenn Menschen anderer Hautfarbe, wenn Ausländer, Asylsuchende oder Aussiedler, wenn anders glaubende oder anders lebende Menschen angepöbelt werden - der macht sich schuldig. Wer heute schweigt, wenn am Arbeitsplatz der Kollege oder die Kollegin gemobbt wird - der macht sich schuldig. Wer heute schweigt zu militärischer Aufrüstung, zu Krieg, Haß und Gewalt - der macht sich schuldig. Wer heute schweigt zur Ausbeutung und zum Mißbrauch von Mensch und Natur in unserem Land und in der Welt - der macht sich schuldig.

6. Sich des Geschehens der Reichspogromnacht erinnern und die Augen vor den Unmenschlichkeiten verschließen, die in unserer Zeit geschehen - bei uns und anderswo -, das könnte leicht an Verlogenheit grenzen. Aus den furchtbarsten Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte erwächst mir Verantwortung für heute - und für die Zukunft. Ich will mich ihr stellen - und das Wort ergreifen, sobald Gefahr in Verzug ist und die Würde eines Menschen angetastet wird. Den Anfängen wehren, nicht erst den Untaten, sondern schon den verletzenden Worten und den häßlichen Gedanken, bei anderen und zuerst bei mir, darum will ich mich bemühen. Damit verbinde ich - als eindringliche Bitte an Gott - die Hoffnung, daß durch mein Volk nie wieder eine todbringende Katastrophe über Menschen hereinbricht. Möge vielmehr für alle, die in diesem Land wohnen, spürbar werden, wozu Menschen auch fähig sind: zu Freundlichkeit und Güte, zu Offenheit und Toleranz, zu Solidarität und Hilfsbereitschaft.


Schreiben Sie an post@predigtwerkstatt.de

© Gundula Kühneweg 2001